Textbeiträge
Mein Vater Jahrgang 1925 ist mit 16 Jahren eingezogen worden. Als ausgebildeter Segelflieger kam er zur Luftwaffe. Oft ist das Leben nur eine Kette von Zufällen. Er hatte Glück. Als er fertig ausgebildeter Flieger war, gab es kein Sprit und keine Flugzeuge um ihn einzusetzen. Diejenigen, die 6 Monate vor ihm fertig ausgebildet waren, sind zu Großteil innerhalb weniger Stunden verheizt worden. Der Text stammt aus dem Lebenslauf meines Vaters. Die Ausbildungspahse zum Flugzeugführer habe ich um den Text nicht zu lang werden zu lassen heraus gekürzt.
„…Damit war ich fertig ausgebildeter Flugzeugführer für sämtliche einmotorigen Flugzeugtypen mit Ausnahme der eigentlichen Kriegsflugzeuge für, die es eine besondere Einweisung gab. Außerdem hatte ich den Schein für leichte zweimotorige Flugzeuge
Wir wurden von Klagenfurt nun nach den verschiedensten anderen Flugzeugführerschulen und Geschwadern versetzt. Ich kam nach Brünn auf das Schlachtgeschwader 101 das die Ausbildung für die FW 190, die als Schlachtflieger zur Unterstützung der Infanterie eingesetzt wurde, vornehmen sollte. Leider haben wir zwar viel Theoretischen Unterricht gehabt und ich habe hier meine Begabung für technische Vorgänge, die mir vorher nicht bewußt war, kennen gelernt. Ich habe auf dieser Schule eine Arbeit geschrieben, die angeblich, die beste war, die je auf der Schule geschrieben wurde. Es handelte sich um die Funktionsweise von Instrumenten. Leider kamen wir nicht mehr zum fliegen. Wir mußten alles mögliche machen. Den Flugplatz gegen dutzende von Mustangs mit den vielen aus alten Bombern ausgebauten Maschinengewehren verteidigen. Da beinahe jeder von uns ein irgendeinem Loch ein solche Maschinengewehr zum Teil waren sie zu Zwillingen und Drillingen zusammengebaut. Waren die armen Mustangs dann sehr ob des irrsinnigen Feuerzaubers irritiert und sind meist, wenn sie uns einmal überflogen haben verschwunden.
Gegen Weihnachten 1944 war eine große Frageaktion wer einigermaßen fließend englisch könnte. Man hätte sich freiwillig melden können und wäre als Fallschirmjäger mit englischer Uniform hinter der Front in Frankreich abgesetzt worden um dort Sabotageakte zu machen und bei den Amerikaner durch falsche Auskünfte Verwirrung zu stiften. Es würde nicht gesagt, daß ein Soldat in fremder Uniform als Spion erschossen werden kann. Es haben sich von uns einige gemeldet. Die meisten kamen 3 Wochen später wieder zurück. Die Ausbildung war wahnsinnig hart, einige waren von den Übungssprüngen mit Fallschirm und Waffen und dann meist noch nachts verletzt. Sie würden mit englischen Zigaretten Waffen und allem Notwendigen ausgestattet. Natürlich gab es auch Sprachunterricht vor allen in bei engl. und amerikanischen Soldaten gebräuchlichen Slangausdrücken. Die sogenannte Ardennenoffensive, in der Deutschland im Westen noch einmal alle Kräfte zu einem Gegenschlag bündelte ist schnell in sich zusammengefallen. Die Materialüberlegenheit der Alliierten war zu groß.
In diese Zeit fiel auch unser Partisaneneinsatz in den Beskiden. Dort hatte die Deutschen große Probleme mit Partisanen. Es war ein großes Waldgebiet, das wir und viele Andere im Fronteinsatz unerfahrene meist sehr junge Soldaten umstellen mußten. Es wurden in Abständen von 50 Metern Löcher ausgehoben, die hauptsächlich in der Nacht von uns besetzt werden mußten, etwa 100 Meter vom Waldrand entfernt. Im Wald sollen die Partisanen gewesen sein und noch eine kriegserfahrene Truppe der Waffen SS, die wir aber nie zu sehen bekamen. Es war Winter ,lag viel Schnee, der Waldrand war dunkel und hob sich im Weiß des Schnees gut ab. Wir waren um dieses riesige Waldgebiet noch die ältesten. Wir waren alle etwa 19, sozusagen die Veteranen. In den Nachbarabschnitten lagen Jungs, die waren nur 17 und zum Teil jünger. Wenn irgendwo in der Nacht am Waldrand geschossen wurde, weil einer meinte etwas gesehen zu haben wurden alle nervös und es gab sicherlich 20 Kilometer um den ganzen Wald herum ein einziges Feuerwerk. Partisanen sollen nicht gefangen worden sein, wohl sind drei unschuldige Frauen, die auf Anruf nicht sofort stehen blieben erschossen worden.
Hier war es auch das ich mich das erste Mal in meinem Leben verliebt. Wir waren in einem Forsthaus untergebracht und die Tochter des Hauses betrieb mit der Mutter zusammen die kleine dazugehörige Landwirtschaft. Trotz der schweren Arbeit sah sie, wenn sie Samstag weg ging nicht wie ein Bauerntrampel, sondern wie ein geschmackvoll gekleidetes Mädchen aus. Sie wußte natürlich nicht, daß ich sie anhimmelte, wie viele andere meiner Kameraden sicher auch.. Außerdem hätte ich als Deutscher wohl auch nicht die geringste Chance gehabt. Ich war aber auch noch nicht so weit. Ich war viel zu schüchtern sie anzusprechen, außerdem konnte ich nicht tschechisch.
Als wir aus den Beskiden zurückkamen lag für mich ein Urlaubsanspruch da. In Berlin ist in unser Haus eine Bombe gefallen und meine Mutter hatte bei dem entsprechenden Amt einen Antrag auf Urlaub gestellt, der auch genehmigt wurde. Der Sinn war wohl, daß man zu Hause aufräumen helfen sollte. Der Geschwader Kommodore ließ mich persönlich kommen und sagte etwa folgendes,„ Junge paß in Berlin schön auf. Die Russische Front ist nicht weit, und in Berlin kaschen sie die Leute und schicken sie direkt weiter an die russische Front, egal von woher sie kommen und wohin sie müssen.„ Wir werden demnächst verlegt werden. Er gab mir noch Anweisungen was ich zu tun hätte, wenn das Geschwader nicht mehr da wäre.
Dann ging es ab nach Hause. Ich hatte keine Ahnung was mich dort erwartete, ob unser Haus noch stand oder was überhaupt los war. Man konnte nicht mal so einfach telefonieren, wie das heute üblich ist. Ich kam glücklich in Berlin an. Unser Lagergebäude war zerstört. Das Wohnhaus hatte einen kleinen Schaden. Meine Mutter hatte bei den zuständigen Stelle stark übertrieben und wahrscheinlich dem Blockwart, der die schwere des Bombenschadens bescheinigen mußte, eine Wurst gegeben. Meine Eltern hielten mich möglichst im Hause, denn es rannten überall Kommandos rum, die Soldaten für die russische Front suchten, die am zusammenbrechen war. Mein Geschwader Kommodore hatte vollkommen recht gehabt.
Mein Vater war außerordentlich deprimiert. Er hatte Angst um die ganze Familie, denn es war klar, das die Russen und nicht die Amerikaner Berlin einnehmen würden. Ich war noch nicht voll überzeugt, daß Deutschland den Krieg verlieren würde, denn wir hatte ja angeblich noch die Wunderwaffen. Die größte Angst hatte mein Vater um mich, denn er wußte das in den Endstadium eines Krieges die größten Verluste entstehen. Mutter und Vater brachten mich zum Bahnhof beide mit Tränen in den Augen. Papa soll wie meine Mutter mir später erzählte auf dem Bahnhof laut getobt haben „ Diese Verbrecher, diese ganze Bande von Nazis. Mutter versuchte ihn zu beruhigen.
Ich bin gut in Brünn angekommen und hatte unterwegs keinerlei Probleme.
Wir sind dann umgehend nach Faßberg in der Lüneburger Heide verlegt worden. Dort lagen die ME 262 (Messerschmidt)´. Die einzigen Jagdflugzeuge auf der Welt die ein Düsentriebwerk hatten. Sie allein Konnten bei der Übermacht der Amerikaner und Engländer nach mithalten. Sie waren bezüglich Geschwindigkeit und Bewaffnung weit überlegen. Sie hatten immer eine ganze Meute von Mustangs und anderen Jägern hinter sich. Diese konnten nur mithalten, wenn sie mit Schwung aus einem Sturzflug kamen. Die Me 262 griffen die schweren Bomberverbände von unten hinten an. Das war deren schwache Stelle. Aber sie mußten ja auch mal Landen. Es schwirrten so viele feindliche Jäger in der Luft herum, daß die Me`s Schwierigkeiten hatten runter zu kommen.
Wir machten jetzt nicht einmal mehr theoretischen Unterricht. Wir bewachten den Flugplatz und mußten uns wenn ein Bombenangriff erwartet wurde in Schutzlöcher verkriechen. Diese Bombenangriffe waren sehr häufig allerdings immer aus größer Höhe, weil man vor den Me 262 großen Respekt hatte. Mir kamen jetzt doch Zweifel an unserem Sieg.
Die Russen standen nun weit auf deutschem Boden kurz vor Berlin. Eines Tages war meine Schwester Christel da.. Sie sollte von Faßberg weiter nach Westdeutschland, denn Vater wollte sie aus Berlin raus haben. Das hat sie mir allerdings nicht erzählt. Man wollte mir nicht einmal einen halben Tag frei geben. Meine Vorgesetzten verhielten sich ausgesprochen kleinlich. Christel brachte auch einiges an Verpflegung mit, denn mein Vater hat die Ernährungslage der Familie immer bestens im Griff gehabt. Sie ist dann nach der auch für sie enttäuschenden Zusammenkunft mit Ihrem Bruder den gefährlichen Weg wieder zurückgefahren und muß wohl kurz vor den Russen in Berlin gewesen sein. Wir hatten so wenig Zeit miteinander, das wir darüber was sie nun machen würde nicht gesprochen haben
Der Krieg näherte sich jetzt wirklich dem Ende. Jede Woche wurden Freiwillige gesucht für die gefährlichsten und unsinnigsten Unternehmen meist ausgesprochene Todeskommandos. Unser Schulflugzeug die langsame Bü 181 sollte als Panzerabwehrwaffe ausgerüstet werden. Sie bekam unter die Tragflächen je eine Panzerfaust und sollte damit dann russische Panzer abschießen. Die Bü 181 war ein Flugzeug aus Holz und Leinwand bis auf den Motor aus Metall. Sie flog 150 bis 160 km schnell und konnte mit einem Karabiner abgeschossen werden. Schon vorher waren Anfragen nach Freiwilligen, die sich auf einen Torpedo setzen sollten und diesen dann auf Schiffe steuern mußten. Da man bis auf die Me 262 keine Waffe hatte um die schweren Bomberverbände anzugreifen wurde von den Jagdfliegern verlangt, daß sie die Bombenflugzeuge rammen sollten.
Berlin muß wohl schon eingenommen worden sein und die Amerikaner hatten den Rhein überschritten. Nun wurden wir noch als letzte Reserve eingesetzt und die meisten von uns jungen Bengels waren bereit zu kämpfen. Unser Geschwader Kommodore, dessen Namen ich leider nicht kenne, muß ein toller Mann gewesen sein. Er brachte es fertig uns in dem kleinen Raum der Lüneburger Heide auf der einen Seite Russen jenseits der Elbe und auf der anderen Seite Engländer oder Kanadier, aber auch noch SS Truppen dazwischen, die ohne Rücksicht zurückweichende deutsche Soldaten erschossen. Wir wurden jeden Tag und zum Teil auch nachts hin und her gehetzt mit schweren Gepäck und Waffen. Wir marschierten pro Tag sicher 40 bis 60 Kilometer. Wir schliefen in Scheunen oder am Wegesrand. Wir hörten immerzu Gefechtslärm, aber wo wir waren war kein Feind. Dieser Mann hat seine Truppe systematisch aus den letzten Kämpfen, die alle verlustreich für die Deutschen waren heraus gehalten. Einmal waren wir im Granatwerferfeuer. Ich habe beim Fliegen nie Angst gehabt. Auch Situationen in Bombenteppichen oder Tieffliegerangriffe, wo die Kugeln neben einem aufspritzen, haben mich nicht gerührt. Jetzt hatte ich auf einmal Angst.
Auch als diese Fragen nach Freiwilligen kamen habe ich mich nicht gemeldet, obwohl die meisten meiner Kameraden es taten, sicher nicht aus Tapferkeit, sondern nur um Abwechselung zu haben. Es ist offensichtlich auch eine Frage des Alters. Unter 18 bis 19 glaubt man, daß es einen selbst nicht trifft. Jetzt hatte ich zum ersten Mal im Krieg Angst und das Granatwerferfeuer, das nicht besonders nahe war, hat meine Verdauung ungeheuer angeregt. Es ist schwierig, wenn man den Kopf nicht heben kann auf den Topf zu gehen. Die Bauern in der Gegend waren nicht nett zu uns. Sie wollten uns möglichst schnell weg haben, damit es ,wenn die Engländer kommen sollte es keine Kämpfe gäbe..
Eines Tages diese Periode hat etwa 14 Tage gedauert, war für uns kein Spielraum mehr irgendwohin zu marschieren. Wir mußten alle antreten und jeder bekam sein Soldbuch ausgehändigt. Komandeur hat gesagt jeder müßte nun selbst für sich Sorgen. Im Westen wären die Engländer und Amerikaner und im Osten jenseits der Elbe die Russen. Da viele von uns aus Berlin waren wurde noch erwähnt, daß Richtung Berlin keine gute Lösung wäre. Ein Infanterist hätte aus der Situation sicher etwas machen können und Richtung Westen ohne Gefangenschaft nach Hause gehen können. Wir haben, aber nur eine Nacht in einem Bauernhof übernachtet und sind am nächsten morgen einer Streife von Kanadiern in die Arme gelaufen. Es war der 18. April 45. Ich habe in dem Rübenacker meine Pistole und eine Handgranate, die ich noch hatte fallen gelassen. Unsere Kanadierstreife hat uns nicht sehr ernst genommen. Die Burschen waren gegen uns alle doppelt so groß und schwer. So kam es uns wenigstens vor. Sie nahmen uns allen wir waren etwa 5 Mann die Armbanduhren ab ob wir noch Waffen hatten interessierte sie nicht besonders. Unterwegs haben sie mit ihren Pistolen auf Verkehrsschilder Ortsschilder und alles mögliche geschossen. Wir fühlten uns aber keineswegs von ihnen bedroht, und die Schießerei war lässig und Sport für sie. Bei uns dagegen ist jeder Schuss Munition gezählt und registriert worden. Dann ging es in ein Auffanglager….“
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Motivation für diese Geschichte:
Ich bin Jahrgang 1951. Meine Mutter Elisabeth Urban (geb. 1925) stammte aus Schlesien, aus dem kleinen Dorf Altweistritz. Sie war mit ihren Eltern und ihrem Bruder 1946 nach Senden, ins Münsterland, gekommen. Dort heiratete sie 1950 meinen späteren Vater. Sie bezogen zusammen mit meiner schlesischen Oma bei Verwandten meines Vaters zwei Zimmer.
Wenn manchmal sonntags Verwandte oder Freundinnen meiner Mutter zu Besuch waren und in ihrem schlesischen Dialekt redeten, spürte ich, dass meine Mutter und ihr Besuch von den westfälischen Verwandten misstrauisch beäugt wurden. Ich konnte das nicht verstehen. Es machte mich traurig, weil ich mich beiden zugehörig fühlte. Sonntags standen die Schlesier vor der Kirche in Gruppen zusammen und redeten über das, was sie verlassen mussten, ihre „Heemte“.
Meine Mutter starb als ich neun war. Ich spürte immer mehr: wie sehr fehlen mir Erzählungen und Erinnerungen von damals.
2018 entschloss ich mich, ihren Geburtsort zu besuchen und im Dözesan-Archiv in Breslau nach der Familie zu forschen. – In den Kirchenbüchern über Todesfälle habe ich eine Entdeckung gemacht: Meine Mutter hat im Mai 1945 einen Jungen geboren, der im August mit drei Monaten an Typhus gestorben ist. – Ich hatte also einen älteren Bruder.
Das war für mich der Impuls, die nachfolgende Geschichte zu schreiben.
Elisabeth Maria Urban, geb. 1925 in Altweistritz, heute: Stara Bystrzyca/ Polen
Elisabeth wohnte mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder Herbert (geb. 1927) in Altweistritz. Einem ganz gewöhnlichen Straßendorf, das wie viele andere Dörfer auch, durch die Hauptstraße in zwei Teile geteilt wurde. Neben der Hauptstraße floss die Kressenbach. Dieser kleine Fluss „die Kressenbach“ trieb zwei Mühlen an. Eine im Unterdorf, die andere im Oberdorf.
Zur Schule hatten die Kinder es nicht weit. Elisabeth hatte viele Freundinnen, die alle aus diesem Dorf stammten. Da waren Hilde Beck und Hedwig und Grete. Der Lehrer wohnte, wie das so üblich war, direkt im Schulgebäude. Alle Kinder der Schule lernten in nur einem Klassenraum. Elisabeth hatte schwarze dichte Locken, die sie in Zöpfen bändigte. Ihr helles Kichern hörte man zwischen den Mädchen sofort heraus, was nicht immer günstig war. Ihr Bruder Herbert mit seinen roten Haaren war ein wilder Draufgänger. Er liebte alle Mädchen. Für ihn war klar, dass er einmal den großen Hof seines Vaters mit all den Kühen, Pferden und Schweinen übernehmen würde. Und natürlich mit dem Land, das sich bis zum Wald und noch weit dahinter erstreckte, bis man nur noch die Wolken sehen konnte. Aber der Vater war noch nicht alt und nicht bereit, den Hof seinem Sohn zu überlassen.
Als Elisabeth neunzehn Jahre alt war, hatte sie einen Freund im Dorf gefunden. Oft stand sie abends auf der Weigangbrücke gegen das Eisengeländer gelehnt und wartete auf ihn. Aber er kam nicht. Auch am nächsten Tag nicht. Und an keinem anderen Tag. Sie hätte ihm gern etwas verraten: Sie erwartete ein Kind von ihm. Sie wollten doch heiraten.
Der Zweite Weltkrieg war im Mai 1945 zu Ende. Und in diesem Mai bekam Elisabeth ihr Baby, einen Jungen, den sie Herbert nannte, wie ihren Bruder. So war es üblich, dem männlichen Erstgeborenen einen Vornamen zu geben, den schon die Vorfahren hatten.
Elisabeth und der kleine Herbert hätten keine üblere Zeit für einen Start ins Leben erwischen können. Durchs Land zogen Deserteure, Marodeure, Plünderer, Hungrige, die nach Lebensmitteln suchten. Tausende Zwangsarbeiter verschiedener Nationalitäten, verwundete deutsche Soldaten, Überlebende aus Konzentrationslagern. Es wollten auch zahlreiche Menschen das zerstörte Land verlassen. Massen benutzten dafür den Weg über Glatz nach Wien. So quoll das Land von Menschen über, in dem nichts mehr funktionierte. Alles war zerstört. Auch die Moral. Es gab keinen Strom im Haus, auch nicht in den Ställen bei den Tieren. Draußen drohte Gefahr durch Minen und weggeworfene Sprengmaterialien. In den Wäldern fanden Kinder manchmal Waffen, die sie mit nach Hause brachten.
Überall im Land wurden russische Kommandanturen eingerichtet. In Elisabeths Dorf war dafür das Schulgebäude vorgesehen. Dort mussten zwangsweise auch Leute aus dem Dorf arbeiten. Die Frauen im Dorf hatten große Angst vor den russischen Soldaten, denn für sie galt es nicht als Verbrechen, deutschen Frauen Gewalt anzutun.
Mit Elisabeth waren sie auf dem Hof vier erwachsene Personen. Doch gab es auch noch Mägde und Knechte. Tagtäglich kamen Menschen an die Tür und fragten nach etwas zu essen oder nach einem Nachtlager.
Ob die Felder überhaupt in diesem Kriegsfrühling bestellt werden konnten und im Sommer das Korn auf den Feldern stand? Gab es genug Saatgut, gab es Pflanzkartoffeln? Wuchsen Runkelrüben auf dem Acker für die Kühe? Wurde im Garten Gemüse angebaut, das auch von ihnen geerntet werden konnte?
Die Kühe durfte man aus Angst vor Dieben nicht unbeaufsichtigt auf der Weide lassen. Der Heuschober musste verschlossen werden vor ungebetenen Gästen, die vielleicht so unvorsichtig wären und Feuer machten. Die Pferde wurden für die Nacht hereingeholt, damit sie niemand stahl. Durch die vielen durchziehenden Fremden waren alle unsicher und ängstlich oder auch wütend.
Für Elisabeth war der kleine Herbert sicher das Wichtigste auf der Welt. Er sollte es einmal besser haben. Der Hof ist groß genug für uns alle. Ich bin stark, so wird sie gedacht haben. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an alle diese Schwierigkeiten, die draußen vor sich gingen, denn Herbert erkrankte schwer. Gerade noch war Elisabeth bei ihm gewesen, als er plötzlich anfing zu schreien. Sein Kopf war rot und heiß. Er hatte hohes Fieber und Durchfall. Doch nach ein paar Tagen war wieder alles gut. Wenig später kam das Fieber zurück. Was Herberts Mutter auch an gewohnten Hausmitteln probierte: das Fieber sank nur kurz. Am nächsten Tag war es wieder da. Der kleine Herbert hatte keinen Appetit mehr. Seine Haut wurde schrumpelig. Er wurde apathisch. Das Krankenhaus in der Stadt Habelschwerdt war zerstört. Dort konnte man ihn nicht hinbringen.
In den Kirchenbüchern kann man lesen, dass Herbert an Typhus erkrankt war – wie weitere sechs Babys im Dorf auch. Der kleine Herbert lebte nur drei Monate.
Das Unglück aber hörte damit nicht auf. In den anderen Landesteilen waren die meisten bereits vor der Roten Armee geflüchtet. Der Krieg für die Deutschen war verloren. Die Grenzen der Länder von Polen und Deutschland wurden neu gezogen. Polen aus dem Osten sollten jetzt auch dort wohnen, wo Elisabeth mit ihrer Familie wohnte. Eine neue, polnische Verwaltung wurde eingesetzt. Doch wachten auch die Russen noch über das Geschehen. Viele Bewohner hatten Altweistritz verlassen und waren mit den Flüchtlingstrecks Richtung Westen gegangen. Doch die mit den großen Höfen, mit dem Vieh, mit dem Land bis zum Himmel, hielten noch stand.
Es wurde angeordnet Polnisch zu sprechen, die polnische Währung Złoty wurde eingeführt. In einigen Häusern wohnten bereits Polen, die man wiederum aus ihren Häusern, von ihren Höfen, vertrieben hatte, weil das frühere Polen jetzt zur Sowjetunion gehören sollte. Diese Menschen konnten ihr Eigentum nicht mitnehmen. Sie mussten ihr Vieh zurücklassen, vielleicht ihren Hund töten, weil sie ihn nicht allein seinem Schicksal überlassen wollten. Sie kamen müde und krank in dem kleinen Dorf an und wussten nicht, was sie erwartete. Sie zogen in eins der bereits leerstehenden Häuser. So wohnten Polen und Deutsche nebeneinander. Vielleicht funktionierten noch die zwei Mühlen am Kressenbach, sodass man Mehl hatte. Vielleicht gab es Hühner. An den Landstraßen boten Menschen aus Koffern und Handwagen ihr letztes Hab und Gut zum Tausch gegen Lebensmittel an.
Auf der sogenannten Potsdamer Konferenz wurden die Landesgrenzen verhandelt. Doch es ging daraus nicht klar hervor, ob nicht die Glatzer Neiße, die drei Kilometer von Elisabeths Wohnort entfernt floss, die neue Landesgrenze zwischen dem neuen Polen und Deutschland sein würde. Altweistritz würde dann zu Deutschland gehören. Oder auch tschechisch werden? Es kamen immer mehr Polen in den Ort. Bald gab es eine polnische Verwaltung neben der russischen. Die Fabriken wurden von Polen übernommen. Deutsche konnten dort für einen geringen Lohn arbeiten. Der Strom der Vertriebenen aus dem Osten riss nicht ab.
Am 14. Februar 1946 kam es zu einem Abkommen zwischen britischen und polnischen Vertretern für eine Aussiedlung.
Unter dem Begriff „Aktion Schwalbe“ begann die Vertreibung. Elisabeth und ihr Bruder mit den Eltern warteten ab, doch hatten sie vielleicht schon Koffer gepackt und darüber nachgedacht, was sich als Proviant am besten eignete. Mit welcher Angst mag jeder für sich in seinem Bett gelegen haben? Elisabeth hatte sich vorgestellt, hier weiter leben zu können, ihre Freundinnen waren hier. Vor allem Hilde, die noch immer ihren Vater vermisste, der wahrscheinlich in Sibirien war und nie mehr zurückkäme. Elisabeths Mutter, ihre Tanten und Onkel lebten noch hier. Sie alle sprachen über nichts anderes als dass sie hier niemals weggehen würden. Wohin sollten sie denn? Mit Nichts irgendwo wieder anfangen? Und wenn sie getrennt würden? Es fehlten ja schon die Männer im Dorf. Und jetzt sollten sie Freunde und Verwandte auch noch verlieren?
Elisabeths Mutter murmelte tagsüber vor sich hin. Nachts schreckte sie auf, schrie „die Russen kommen“, bis alle wach geworden waren. Elisabeths Bruder, der zu seinem Glück nicht in den Krieg musste und sich im Dorf mit den vielen Mädchen gut eingerichtet hatte, besorgte sich von geheimen Verstecken Alkohol, um in den Schlaf zu kommen. Elisabeth besuchte den kleinen Herbert, wenn sie sich sicher fühlte, auf dem Friedhof. Sie weinte und erzählte ihm, dass sie ihn bald verlassen müsste.
Dann war der Tag gekommen. Ankündigungen brauchten sie gar nicht zu lesen, es wurde über nichts anderes geredet. Es klopfte. Sie wurden vertrieben: „Dawei, dawei.“ Es war der 7. September 1946. Der Zug mit 1700 Menschen geht von Mittenwalde ab. Auf der Liste stehen vier Mitglieder der Familie Urban. Der kleine Herbert bleibt zurück.
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Die Beiträge bilden ein Mosaik, in dem jeder Stein seine individuelle Färbung und Charakteristik hat. Sie kommen von professionell Schreibenden und historisch Forschenden ebenso wie von Menschen anderer Berufe. Einige sind ausschließlich auf das persönliche Erleben konzentriert und lassen die Ereignisse der Zeit als Hintergrund nur ahnen, während andere auch Elemente geschichtlicher und politischer Analyse enthalten. Wir hatten das Glück, dass einige Autorinnen und Autoren ihre Texte persönlich vortrugen, bei den übrigen haben wir uns bemüht, ihnen mit unseren Stimmen gerecht zu werden.
Noch im selben Jahr 2020, in dem wir unser Videoprojekt erstellten, verstarben
Ilse Ehlert im August (Beitrag Nr. 10),
Karl-Otto Mühl im August (Beitrag Nr. 9) und
Dorothea Müller im September (Beitrag Nr. 1).
Theaterprojekt 1995
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